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Diese Webseite widmet sich der kulturanthropologischen Reflektion auf Sinn & Sinnlichkeit der Jagd im gegenwärtigen Deutschland, kurz: auf die Kultur der Jagd. Dabei geht es weniger um die Historie bestimmter Jagdtraditionen, die gesamtgesellschaftliche (soziologische) Bedeutung der Jagd oder um ihre ökologische Funktion für biologische Lebensräume.

Dr. Thorsten Gieser ist Kulturanthropologe am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz und Research Associate am Institut für Ethnologie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Er beschäftigt sich mit Mensch-Natur-Verhältnissen und Mensch-Tier-Beziehungen in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften.

Vielmehr geht es um eine Neubestimmung, was unter Jagdkultur zu verstehen ist (jenseits vom sogenannten Brauchtum bzw. Traditionen). Was also ist Jagdkultur? Zu den verschiedenen Erscheinungsformen des Kulturellen gehören:

  • Sprachliche Strukturen (Jägersprache)
  • Schriftgelehrte Spezialdiskurse (Jagdwissenschaft, Wildbiologie)
  • Populäre Diskurse (Jagdmedien, Jagdliteratur)
  • Institutionelle Infrastrukturen (Jagdverbände, Jagdbehörden)
  • Situierte Praktiken (Ansitzjagd, Drückjagd)
  • Materielle Kultur (von hergestellten Artefakten hin zu geformten Kulturlandschaften)

Im Zentrum dieses Forschungsprojektes steht die gelebte Jagdkultur und damit die Frage: Was tun Jäger genau, wenn sie zur Jagd gehen?

Einerseits wissen Nicht-Jäger hierüber meist nur oberflächlich, wenn überhaupt, Bescheid. Andererseits sind Jäger normalerweise ganz mit dem Vollzug ihrer Handlungen beschäftigt. Dies wird v.a. auch dadurch ermöglicht, dass es sich um Routinehandlungen handelt und das Prozedere so vertraut ist, dass das genaue Wie der Handlung aus dem Blick gerät zugunsten des Ziels der Handlung. Nachträgliche Reflektionen auf die Jagd haben verständlicherweise meist pragmatische Gründe (auf Jagderfolg gerichtet), richten sich auf ethische Dimensionen (Waidgerechtigkeit) oder verdichten den Jagdprozess zu erinnerungswürdigen ‚Erlebnissen‘. Diese bewussten Rationalisierungen konstruieren daher Interpretationen oder Repräsentationen über die Jagd. Sie zeigen nicht, wie Sinnbildungsprozesse im Vollzug der Jagd selbst ablaufen, sondern geben sie in transformierter Weise wieder.

Daher ist die erste Aufgabe dieses Forschungsprojekts die ‚dichte Beschreibung‘ der Jagdpraxis, d.h. eine zeitgleiche, mit Aufzeichnungen unterstützte, Begleitung bzw. Mitvollzug der Handlungen und der Sinnbildungsprozesse. Besonders bei der Jagd, die i.d.R. ja eine eher schweigsame Praxis ist, wird dabei ersichtlich, dass Handlungen einen großen nicht-sprachlichen Anteil haben und daher erst einmal versprachlicht werden müssen. Die dichte Beschreibung ist somit auch eine Explikation dieser stummen Dimensionen. Dazu gehört das implizite Wissen, welches den Handlungen unterliegt; das Offensichtliche des Sichtbaren (manches zeigt sich den wissenden, erfahrenen Jägern einfach und muss nicht explizit angesprochen werden); und schließlich die Gegenstände der materiellen Kultur, deren Nutzen/Bedeutung primär durch den Gebrauch erschlossen werden.

Jagdkultur in diesem Sinne als gelebte Praxis zu verstehen geht dabei weit über aufgeführte Darstellungen (Performances) ritualisierten Brauchtums (z.B. das Streckeverblasen) hinaus. Die Jagdpraxis ist ein Praktikenkomplex, bestehend aus einer Vielzahl von Einzelpraktiken, wie der Praktik der jagdlichen Beobachtung, des Pirschens, des Ansitzens, des Schießens und Tötens, des Suchens/Nachsuchens, des Abfangens, des Aufbrechens und Zerwirkens, der Lebensmittelherstellung und Kochens und so weiter. Diese lassen sich unterschiedlich kombinieren zu Jagdformen wie der Ansitzjagd, Treibjagd, Fallenjagd, etc. Und schließlich ergibt ein bestimmter Praktikenkomplex eine spezifische jagdliche Lebensform: das Leben eines passionierten Sauenjägers besteht aus anderen Praktiken als die eines Niederwildjägers.

Jede dieser Praktiken involviert ein ihr spezifisches pragmatisches Wissen (Welches Know-How wird wie eingesetzt, um was zu tun?)

im körperlich-sinnlichen Umgang mit bestimmten Artefakten (Welche Ausrüstung/Waffen beeinflussen wie genau die Ausübung der Jagd?) und Materialien

in einer Umwelt, die sowohl soziokulturell geprägt ist und dennoch ‚mehr-als-menschlich‘ (Welche Tiere und natürliche Dynamiken beeinflussen wie genau die Ausübung der Jagd?).

Obwohl man davon ausgehen kann, dass jeder Jäger seinen eigenen, individuellen ‚Stil‘ entwickelt, was und wie er jagt, haben Jagdpraktiken dennoch normativen Charakter: es gibt ein von der jagdlichen ‚community of practice‘ ausgehandeltes Ideal der ‚guten‘, ‚richtigen‘, ‚waidgerechten‘ Jagd, die sich in der konkreten Form der Art und Weise des Jagens manifestiert. Durch die Normativität der Jagdpraxis entwickeln sich Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die jagdtypisch sind. Durch die genormte Praktik angeleitet, nehmen Jäger also innerhalb der Praktik auf eine bestimmte Weise wahr, werden einzelne Sinne (für sich und im Zusammenspiel) mobilisiert und andere gehemmt, so dass Jagderfahrungen strukturiert und gerahmt werden durch die Praktik, in der sie entstehen.

Somit ist die zweite Aufgabe dieses Forschungsprojekt die Untersuchung der sinnlichen Ordnung (oder des Sinnesregimes) der Jagd. Die theoretische Grundannahme dabei ist, dass Normen, Werte, Ideale der jagdlichen community nicht nur in sprachlicher Form von Diskursen vorliegen, sondern v.a. auch in der sinnlichen Ordnung der Praxis inkorporiert ist und quasi ‚nebenbei‘, im Vollzug der Handlungen implizit mitgelernt wird (allein die Verwendung oder Nichtverwendung eines Nachtsichtgeräts bei der Schwarzwildjagd drückt eine gewisse Jagdethik aus). Diese sinnliche Ordnung findet man im Ablauf der Handlungsroutinen, der Konstellation der gebrauchten Dinge oder aber in der materiell geformten Landschaft. Wie prägt diese sinnliche Ordnung was und wie in der Jagd typischerweise wahrgenommen wird? Und wie prägen Jäger wiederum handelnd-wahrnehmend die Jagdpraxis?

Aus dieser Perspektive ergibt sich ebenfalls eine Neubewertung von Jagderfahrungen: einerseits werden Jagderfahrungen in der modifizierten Form von Jagderzählungen oft als ‚Jägerlatein‘, d.h. subjektive übertriebene oder gar erfundene Geschichten ohne Wert, abgetan. Andererseits ist Jagd heute vor allem auch ein ‚tiefes Erleben der Natur’ (Standortbestimmung Jagd, DJV 2013). Wer also Jagd verstehen möchte muss sie daher als Erfahrung begreifen. In dem hier skizzierten Ansatz bietet jede Jagdpraktik Möglichkeitsbedingungen für bestimmte sinnlich geordnete Erfahrungen, welche als Grundlage für ein Erfahrungswissen im Sinne eines Know-hows gelten. In anderen Worten, Jagdkultur verstanden als Jagdpraxis verbindet Jagderfahrungen mit erfahrungsgebundenen Jagdwissen.

Eine These hierbei ist, dass die sinnliche Ordnung der Jagdpraxis für alle Teilnehmer einen gemeinsamen Erfahrungsgrund schafft: die Jagd, das Wild, die Jagdlandschaft wird von Teilnehmern typischerweise ähnlich erfahren, denn sie sind für pragmatische Zwecke geeint, ihre Verhaltenserwartungen untereinander reziprok standardisiert. Daher können auch Jäger mit unterschiedlichen Biographien oder sozialen Hintergründen aufeinander abgestimmt gemeinsam jagen und sich in Bezug auf die Jagd verstehen. Sie teilen gewisse Grundstrukturen einer jagdlichen Lebenswelt und Lebensform.

Die zentrale Achse dieser jagdlichen Lebenswelten und Lebensformen bildet dabei die Mensch-Tier-Beziehung. In der Jagd dreht es sich grundlegend um die emotional-körperlich-sinnliche Begegnung des Jägers mit einem Tier, in dessen ‚lebendiger Umwelt‘ und es ist diese – schwer in Worte zu fassende, dennoch bewegende und berührende – sinnliche Erfahrung, die der Jagd für die Jäger einen Ur-Sinn gibt, auf den sie sich immer wieder zurückbeziehen, wenn die Jagd in anderen Situationen zur Sprache kommt. Diese unmittelbaren Jagderfahrungen während der Jagdausübung sind schwer zu greifen, da sie voller Ambiguität sind. Der ‚Jagdphilosoph‘ Ortega y Gasset charakterisierte sie als gekennzeichnet von einer ‚Unruhe im Gewissen im Angesicht des Todes‘, einer ‚unklaren Situation‘, einem ‚Gefühl der Unsicherheit‘ und schließlich in dem ‚zweideutigen Charakter der Beziehung zu den Tieren‘. Die Jagdpraxis vereint somit das ‚Rätsel des Todes‘ mit dem ‚Rätsel des Tieres‘. Und sich diesen Rätseln anzunähern ist Sinn und Zweck dieses Forschungsprojekts.